Presse

19.12.2018

Anfassen erwünscht

Ehrenamtliche nähen Nesteldecken für Demenzkranke – Verschiedene Generationen gemeinsam beim Nähen – Projekt der ökumenischen Nachbarschaftshilfe „Zeit füreinander“ in der Würzburger Innenstadt

„Kannst du mir bitte einmal die Schere da drüben geben?“, fragt Rosina Link. Sie sitzt zusammen mit vier weiteren Frauen an einem großen Tisch, auf dem sich allerhand Nähutensilien angesammelt haben: einfarbige und geblümte Stoffreste, buntes Garn, drei Nähmaschinen und vieles mehr. Gemeinsam nähen sie sogenannte Nesteldecken für Demenzkranke. Noch bis Ende Dezember läuft das Projekt der ökumenischen Nachbarschaftshilfe „Zeit füreinander“ des Matthias-Ehrenfried-Hauses in Zusammenarbeit mit der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Sankt Johannis.

„Hier, nimm meine Schere, die schneidet sehr gut“, antwortet Irmgard Reimann. Die 86-Jährige reicht Link die braune Schere und zeigt ihr, wo sie entlangschneiden muss. Reimann hatte früher ein eigenes Schneideratelier und hilft der Jüngsten im Team gerne weiter. Als Schneidermeisterin kann sie einige wertvolle Tipps geben und stellt ihre Utensilien den Ehrenamtlichen zur Verfügung. „Da haben sich so viele Reste angesammelt, und jetzt freue ich mich, dass das hier nochmal Verwendung findet“, sagt sie mit einem Lächeln. Ganz anders sieht es mit der Näherfahrung bei der 15 Jahre alten Rosina Link aus. Sie hat noch nie genäht, mag es aber, kreative Sachen anzufertigen. „Basteln macht mir selber viel Spaß und hiermit kann ich sogar auch noch andere Leute glücklich machen“, erzählt sie.

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Nesteldecken sind spezielle Decken zum Anfassen und Erfühlen für Demenzkranke. Unterschiedliche Stoffe werden zusammengenäht und mit verschiedenem Material bestückt. So finden sich zum Beispiel Knöpfe, Vorhangringe, Schleifen, Reißverschlüsse, Reissäckchen, aber auch Socken auf den Decken. Demenzkranke können die Decke auf ihren Schoß oder auf den Tisch legen und an den verschiedenen Elementen herumnesteln. Eine bereits fertige Decke dient den Frauen als Vorlage. Sie ist rund einen Quadratmeter groß. Im Inneren ist eine Antirutschmatte eingenäht, um die Decke zu beschweren und zu stabilisieren. Auf die Decke sind große und kleine Knöpfe aufgenäht. In zwei alte Stricksocken kann man mit den Händen hineingreifen. Außerdem ist ein langes weißes Band befestigt, aus dem die Erkrankten eine Schleife binden können. Und mit den Fingern kann man über ein flauschiges Herz aus Fell oder eine kratzige Spitzenborte fahren.

In lockere Gespräche verwickelt, arbeiten die Frauen an ihren Decken und helfen sich gegenseitig, wenn der Faden mal wieder reißt oder jemand an der Nähmaschine nicht mehr weiterweiß. Jede Decke ist ein Unikat und die Ehrenamtlichen können ihrer Kreativität freien Lauf lassen.

Der Tatendrang der Gruppe freut vor allem Tina Liebenstein (28). Sie ist Krankenschwester in der Notaufnahme des Würzburger Juliusspitals, hat eine Weiterbildung zur Demenzbeauftragten im Krankenhaus gemacht und kennt sich mit der Krankheit aus. „Im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit ist vor allem die Kommunikation sehr weit eingeschränkt“, erklärt Liebenstein. Demenzkranke Menschen setzten deshalb oft ihre Hände ein, um Informationen aufzunehmen. Das Fühlen an der Nesteldecke sei zudem eine gute Beschäftigungstherapie. Mehrere Stunden könnten sich die Demenzkranken mit der Decke beschäftigen und die verschiedenen Oberflächenstrukturen erkunden. „Außerdem können durch die intensiven taktilen Reize auch Erinnerungen geweckt werden.“

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„Oh schaut mal, das Fell passt doch hier super auf meine Decke“, ruft Ingeborg Wollschläger (48) aus. Sie ist die Seniorenreferentin von St. Johannes, eine der beiden Projektkoordinatorinnen und begeistert, dass bei diesem Treffen Näherinnen aus unterschiedlichen Generationen zusammenkommen. „Von den Geschichten der Älteren profitiert man auch für das eigene Leben“, sagt sie und legt ihre Decke zusammen mit dem Fell auf der Nähmaschine zurecht. „Außerdem habe ich auch in Sachen Nähen noch einiges dazugelernt. Zum Beispiel weiß ich jetzt, wie man Kanten richtig einfasst.“

Sichtlich zufrieden mit der Arbeit der Näherinnen ist auch Melissa Neugebauer, Koordinatorin der Nachbarschaftshilfe „Zeit füreinander“. „Die fertigen Decken werden an die Altenheime in der Innenstadt verschenkt“, erklärt sie. Seit September treffen sich die Frauen und nähen an inzwischen über 15 Decken. Jede Woche sei immer auch mal jemand Neues dabei.

Bis Ende Dezember können Nähbegeisterte und Ungeübte noch für den guten Zweck kreativ tätig werden. Die Gruppe trifft sich jeden Dienstag von 14.30 bis 16 Uhr im Familienraum des Matthias-Ehrenfried-Hauses. Eine Anmeldung ist nicht nötig. Stoffe und Nähutensilien werden gestellt.

Text und Fotos
Rebecca Hornung
POW Bistum Würzburg