Presse

06.04.2020

Was sind uns Medizin und Pflege wert?

Oberpflegamtsdirektor Walter Herberth fordert im Gastbeitrag in der Main Post vom 6. April mehr Wertschätzung für den Pflegeberuf und nach der Corona-Krise ein schnelles Umdenken von Politik und Gesellschaft.

Die Corona-Krise und die Folgen gerade für Pflege- und Seniorenheime treiben mich genauso um wie die Berichterstattung darüber. Vor allem in Boulevardmedien wird leider oft der Eindruck erweckt, es ginge um organisatorische und hygienische Fehler, um die Suche nach Schuldigen oder es handele sich um Vorgänge wie in einem Pflegeskandal. Diese Sichtweise ist falsch. Es handelt sich vielmehr um eine außergewöhnliche, von uns allen noch nicht erlebte Situation schwierigster Art im Umgang mit einer bislang weitgehend unerforschten Viruserkrankung.

"Pflegeheime in unserer Region sind hochprofessionell gut aufgestellt"

Die Pflegeheime in unserer Region sind hochprofessionell mit engagiertem Personal und vielen kreativen Angeboten gut aufgestellt, um die anvertrauten pflegebedürftigen Menschen in ihrem letzten Lebensabschnitt zu begleiten und zu pflegen. Es fällt immer wieder auf, dass der Schritt in ein Pflegeheim von der weit überwiegenden Bevölkerung als ein schwieriger und negativer gesehen wird. Andererseits erleben wir stets größte Dankbarkeit, wenn Angehörige erreicht haben, ihren plötzlich pflegebedürftigen Verwandten in einem Heim zur Pflege unterzubringen. Oder kennen Sie jemanden, der nicht froh war, einen Heimplatz für seinen Angehörigen bekommen zu haben?

"Unsere Solidarität gilt den vom Virus betroffenen Einrichtungen"

Welches der Heime im Umfeld einer hochansteckenden Viruserkrankung als erstes getroffen wurde, hatte nichts mit der Frage der Fachkompetenz zu tun, sondern war reiner Zufall. Daher betone ich ausdrücklich, dass es unser Heim im Juliusspital genauso hätte treffen können in einer Phase, in der die Sensibilisierung der Bevölkerung erst begonnen hat. Unsere volle Solidarität gilt deshalb den vom Virus direkt betroffenen Einrichtungen.

Die Situation stellt eine nie dagewesene Herausforderung für Pflegekräfte dar, unter völlig anderen Voraussetzungen im Vergleich zum bisher üblichen Pflegealltag. Sie müssen sich mit Schutzmasken und ggf. Schutzmänteln ausstatten, um sich und die Pflegebedürftigen zu schützen. Sie müssen die Unsicherheit der Bewohner nehmen, sie müssen diese auffordern, in ihren Zimmern zu bleiben, sie dürfen keine Gemeinschaftsveranstaltungen mehr anbieten. Nicht von ungefähr hört man von Seniorinnen und Senioren, dass die jetzige Zeit sehr an Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg erinnere.

Qualifizierte Pflege ist nicht im Abstand von eineinhalb Metern machbar

Doch eine qualifizierte Pflege an einem Menschen ist nicht im Abstand von eineinhalb Metern machbar. Eine Infizierung ist daher trotz Schutzausrüstung, falls vorhanden, nicht ausgeschlossen. Fatale Folge einer Infizierung von Personal ist die sofortige Herausnahme aus dem Dienst. Zurück bleiben die Pflegebedürftigen, die vom verbleibenden Personal weiter betreut werden. Trotz immenser psychischer und physischer Belastungssteigerungen verlängern die Pflegekräfte ihre Schichtzeiten und arbeiten viele Tage am Stück. Oft wird auf Pausen verzichtet, um sich so gut wie möglich um die Bewohner kümmern zu können und dem Anspruch der eigenen Grundhaltung gerecht zu werden.

Sytemrelevanz - ist diese Bewertung von Dauer?

Pflege und Medizin werden heute gerne als systemrelevant bezeichnet. Es ist zu hoffen, dass diese Bewertung von Dauer ist. Es muss gelingen, dass die hochqualifizierten Pflegekräfte auch nach der Krise gut in ihrem Beruf arbeiten können und sich nicht von diesem wichtigen Beruf abwenden. Wir müssen die aktuelle Wertschätzung konservieren, und zwar gleichermaßen für alle Pflegekräfte, die in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Hospizen und ambulanten Diensten rund um die Uhr Dienst leisten. Der in den vergangenen Tagen wiederholt gespendete Applaus für ärztliche und pflegerische Arbeit ist gut, darf aber nicht alles bleiben. Es braucht mehr. Viel mehr! Das zum Beispiel:

  • Politik und Gesellschaft sollten in die Diskussion, was uns Medizin und Pflege im Vergleich zu Berufen im Industrie- und Bankenwesen Wert sind, sofort nach Bewältigung der Krise einsteigen. Dabei muss auch die Beantwortung der Frage eine Rolle spielen, welcher Anteil profitorientierter Privatanbieter im Verhältnis zu öffentlich-rechtlichen und freigemeinnützigen Trägern für unser Gesundheitssystem tatsächlich gesund ist.
  • Dass Mitarbeiter immer dafür sind, die Wertschätzung auch in Heller und Cent zu sehen, ist verständlich. Genauso wichtig ist die Möglichkeit für die Träger, die Personalausstattung so zu bemessen, dass Dienstpläne verlässlich eingehalten werden können und geplante freie Tage und Wochenenden nicht durch einen Anruf der Schichtleitung wegen eines akuten Personalengpasses beendet werden müssen.
  • Großer Motivationskiller ist die Bürokratie durch eine immer größer werdende Dokumentationsflut. Wertvolle Zeit für die Pflegebedürftigen und Patienten geht durch die tägliche Dokumentationslast in Pflegeheimen und Krankenhäusern verloren.
  • In den Pflegeheimen wäre es ein Gewinn, die Prüfdichte durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) und Heimaufsicht von zwei Prüfungen pro Jahr auf eine zu reduzieren. Dabei müssen anlassbezogene Prüfungen selbstverständlich und jederzeit möglich sein.

Wenn diese folgenreiche Krise etwas Gutes haben soll, dann müssen wir die Entlastungsmöglichkeiten in Krankenhäusern und Pflegeheimen endlich angehen. Nicht irgendwann, sondern sofort nach Bewältigung der Krise!

Walter Herberth
Leiter der Stiftung Juliusspital Würzburg

(Walter Herberth, Oberpflegamtsdirektor und Leiter der Stiftung Juliusspital Würzburg kämpft als Stiftungsnachbar und Mitstreiter von Annette Noffz, Leitende Stiftungsdirektorin Würzburger Bürgerspital zum Hl. Geist seit langem – unter anderem in zwei mainfränkischen Pflegegesprächen in Zusammenarbeit mit der Main-Post – für eine bessere Wertschätzung der Arbeit in der Kranken- und Altenpflege.